#RUNDGANG

EBENE 1

Text zur Verfügung gestellt vom Kunstmuseum Stuttgart, es wurden lediglich minimale Änderungen aufgrund von Kürzungen vorgenommen; Fotos: Frank Kleinbach

Den für das Kleinʼsche (Kunst-)Unternehmen wichtigen Aspekt der gesellschaftlichen Verantwortung greift der Ausstellungstitel auf, der einer Arbeit von Anna Oppermann (Eutin 1940 – 1993 Celle) entlehnt ist: Ensemble mit Dekor (Über den Umgang mit Menschen, wenn Zuneigung im Spiel ist) – Dekor mit Birken, Birnen und Rahmen (1969-1984-1992). Da der in Klammern beigefügte Satz wie von selbst zum verbindenden Gedanken für die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart wurde, bildet die Installation den Auftakt. Sie ist mit einem Blick kaum zu erfassen. Über 250 Teile bieten sich dem Auge an: kleinere Fundstücke und Objekte, über 100 Fotografien, 11 große Fotoleinwände, 77 Zeichnungen und Skizzen sowie 40 handschriftliche Notizen und Zitate. Jedes einzelne Teil verlangt nach Aufmerksamkeit und Reflexion, setzt Assoziationen frei und öffnet weitere Türen. Ausgehend von einer Wand- und Ecksituation, entwickelt sich Oppermanns Ensemble rhizomatisch, geht vom Kleinteiligen zum Großen, vom Dreidimensionalen in die Fläche. Es ist ein Modell der Welterschließung, es führt vom Privaten ins Allgemeine, es lanciert gesellschaftspolitische Fragen, die so vielschichtig sind und unvollendet bleiben müssen wie die Arbeit selbst.

In direkter Nachbarschaft zu Oppermanns Installation befinden sich Werke von Anselm Kiefer (*1945 in Donaueschingen) und Florian Heinke (*1981 in Frankfurt a.M.). Die Malerei Anselm Kiefers beschäftigt sich mit Themen der Menschheitsgeschichte. Den beiden Gemälden in der Ausstellung, die sich durch die schiere Präsenz ihrer Materialität auszeichnen, sind Melancholie und Trauer wortwörtlich eingeschrieben. Mit dem Titel »Er trägts wie man Tote trägt auf den Händen. Er trägts wie der Himmel mein Haar trug im Jahr, da ich liebte« (2004) nimmt Kiefer Bezug auf die düstere existentielle Poesie des Lyrikers Paul Celan. Velimir Chlebnikov, Lehre vom Krieg, Seeschlachten wiederholen sich alle 317 Jahre (2005) ist dem russischen Mathematiker und Futuristen Velimir Chlebnikov gewidmet. Dessen Manifest von 1912, das er aus komplexen mathematischen Formeln herleitete, setzte der Aussicht ein Ende, der Mensch könne sich bessern: Der nächste Krieg wird kommen, er ist bereits vorprogrammiert. Der Maler Florian Heinke gibt dazu seinen ganz eigenen Kommentar ab: Auf das Gesicht eines weinenden Jungen schreibt er in Fraktur das Wort »Heimat«. Es scheint, als würde mit diesem Bild unsere ganze Geschichte in einem Moment zusammengefasst. Seine Bilder, die er alla prima mit schwarzer Acrylfarbe auf unbehandelte Leinwand malt, bezeichnet Heinke selbst als »Black Pop«.

 

Der melancholischen Stimmung des ersten Raums begegnet man an vielen Stellen der Ausstellung, auch im nächsten, sich über zwei Etagen erstreckenden Ausstellungsraum. Die tektonisch konstruierten und in gedeckten Farben gemalten ungegenständlichen Bilder von Sean Scully (*1945 in Dublin) bilden einen zentralen Schwerpunkt in der Sammlung Klein. Nur wenige Künstler haben ihren Fokus so stringent auf den Streifen als bildgebendes Element gelegt wie der irische Maler. Das führt die in der Ausstellung präsentierte Auswahl von 10 Werken eindrücklich vor Augen: von den präzise gezogenen Gitterstrukturen der frühen Schaffensjahre bis zu den zuletzt entstandenen Gemälden aus horizontal und vertikal ausgerichteten, sich kontrastierenden Streifenfeldern, die – von Hand mit dem Pinsel in einer Nass-in-Nass-Technik ausgeführt – aufgrund ihrer Oberflächentextur eine plastische Dimension eröffnen. Im selben Raum befinden sich zwei ›Kissenbilder‹ von Gotthard Graubner (Erlbach 1930 – 2013 Düsseldorf). Mit seiner ungegenständlichen Serie dieser Farbraumkörper, deren Bildträger er auspolsterte und dann Schicht um Schicht mit Farbe durchtränkte, untersucht Graubner seit den 1980er-Jahren den Eigenwert und die räumlich-körperliche Wirkung von Farbe.

Der Gattung Zeichnung, die mit bemerkenswert vielen weiblichen Positionen vertreten ist, ist der folgende Raum gewidmet. Von Louise Bourgeois (Paris 1911 – 2010 New York) ist die neunteilige Radierfolge Ode à ma Mère (1995) zu sehen. Darin erforscht die Künstlerin die komplexe Mutter-Kind-Beziehung mittels des in ihrem Werk wiederkehrenden archetypischen Motivs der Spinne, der sie ausschließlich positive Eigenschaften zuschreibt. Bei Katharina Hinsberg (*1967 in Karlsruhe) trifft das Freihändige auf akkurate Maßarbeit, die feine Linie auf den Raum. Bei den beiden ausgewählten Zeichnungen aus der Serie DIVIS (2013) werden Linien durch Wegschneiden des Umraumes bis auf ein weißes feines Papiergitter herauspräpariert, wodurch die Zeichnung zu einer komplexen Räumlichkeit gelangt. Chiharu Shiota (*1972 in Osaka) überführt in ihren Installationen zeichnerische Prinzipien endgültig in die Dreidimensionalität. Als künstlerisches Mittel dient ihr hierfür der Faden, mit dem sie Gegenstände – in der Installation Trauma / Alltag (Ladyʼs Dress) (2007)ein gebrauchtes weißes Kleid – mit einem dichten Gewebe umspinnt.

Thomas Müller (*1959 in Frankfurt a.M.) entwickelt intuitiv, gleichwohl auch planvoll, aus Punkt, Linie und Fläche nichtillustrative, psychografische Strukturen. Alle Arbeiten haben ihren eigenen Charakter, sind aber zugleich Teil eines auf Dauer angelegten, umfassenden Experiments, mit dem er das Potenzial der abstrakten Zeichnung erprobt. Zwischen anschaulicher Mathematik und musikalischer Partitur sind die Arbeiten von Jorinde Voigt (*1977 in Frankfurt a.M.) angesiedelt, die sich durch eine filigrane Linienführung auszeichnen. Ihre Zeichnungen aus der Serie der Matrix-Studien, von denen in der Ausstellung zwei gezeigt werden, erinnern an Notationen oder Diagramme. Unscheinbare und ephemere Dinge dienen Nanne Meyer (*1953 in Hamburg) als Ausgangspunkt für ihren Ideen- und Zeichenprozess. So sind dies etwa vorgefundene, collagierte Bildelemente aus einem DDR-Heimwerkerhandbuch aus den 1960er-Jahren, die sie zur Blätterserie Quer zur Faser (2001/2002) inspirierten. Ob mit seinen Fotografien, Zeichnungen oder den beiden in der Ausstellung gezeigten Gouachen Ohne Titel (1990) – bestimmend für die Arbeiten von Jürgen Klauke (*1943 in Kliding bei Cochem) ist die Beschäftigung mit gesellschaftlich normierten Identitäten und sozialen Verhaltensmustern.

Die Dreikanal-Videoskulptur Die Geschichte der Frau in der Nachkriegszeit (1991) von Ulrike Rosenbach (*1943 in Bad Salzdetfurth) setzt sich mit den kulturhistorischen Implikationen westlich geprägter weiblicher Rollenbilder und Mythen des Weiblichen auseinander. Hierfür greift sie auf historisches Bildmaterial aus Wochenschauen, Revuefilmen und Zeitschriften sowie populäre Schlager zurück, überblendet diese mit eigenen Videoproduktionen, in denen sich die Künstlerin selbst als Filmikone inszeniert, und eröffnet so neue Möglichkeiten einer femininen Ikonografie. Im selben Raum befragt Brigitte Kowanz (*1957 in Wien), deren Lichtarbeit das Verhältnis von Raum, Betrachter und Unendlichkeit thematisiert, den konventionellen Bildbegriff in der Kunst. Die Arbeit excit (2015) zeigt auf einem spiegelnden Untergrund eine von Neon erstrahlende Lichtquelle. Als eigenständiges Phänomen formt sie den im Titel festgehaltenen Ausdruck der Erregung – im Englischen ›to excite‹ – in einem Schriftbild nach, das an die englische Bezeichnung für Ausgang – ›exit‹ – erinnert. Gemeinsam mit Erwin Wurm hat Kowanz 2017 den Österreichischen Pavillon auf der Biennale von Venedig gestaltet.

EBENE 2

Gregory Crewdson (*1962 in New York City) deutet mit seinen an filmische Bildstrategien angelehnten Inszenierungen Geschichten an, deren Fortsetzung und Ausgang er der Vorstellung des Betrachters überlässt. Damit möglichst viele Assoziationen und Gedanken an die Wahrnehmung anknüpfen können, lässt er seine Figuren weitgehend emotionslos auftreten. Seine Bildsujets sind düster und entlarven das Idyll eines kleinstädtischen Amerikas als bedrohliches Trugbild. Die im selben Raum gezeigten Bildkompositionen von Ann-Kathrin Müller (*1988 in Nürtingen) gehen dem narrativen Potenzial von Bildpraktiken auf den Grund. Für ihre schwarz-weiße Fotoserie Die Exposition (2015/2016) greift sie auf bekannte Werbe- und Filmmotive zurück, die sie genau analysiert und neu in Szene setzt. Kõhei Yoshiyuki (*1946 in Hiroshima) macht den Betrachter zu einem Voyeur nächtlicher Sexaktivitäten hetero- und homosexueller Paare in einem öffentlichen Park Tokios. Mit der rigorosen Indiskretion der mit einer Infrarotkamera aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Serie Kõen (1971 – 1979) berührt der japanische Künstler nicht nur eine kulturell bedingte Tabu-Zone, sondern verdeutlicht zudem, dass jeder Fotografie ein voyeuristischer Akt vorausgeht.

Die präzise inszenierten Fotoarbeiten und Videos von Tracey Moffatt (*1960 in Brisbane) behandeln sowohl persönliche Erinnerungen und Traumata, als auch Themen wie Identität, Rasse, Gender und Sexualität. Auf der 57. Biennale in Venedig bespielt sie in diesem Jahr mit der Arbeit MY HORIZON den Australischen Pavillon. Mit ihren Werken operiert sie im Grenzgebiet zwischen Traum und Wirklichkeit – Ausgangspunkt ist dabei häufig ihre eigene, mit der Kolonialisierung Australiens verbundene Geschichte. Während Moffatt aufgrund ihrer indigenen Vorfahren mit Australien tief verwurzelt ist, blickt Rosemary Laing (*1959 in Brisbane) als Nachfahrin britischer Kolonialisten mit Distanz auf den Kontinent. In ihrer fotografischen Werkserie One Dozen Unnatural Disasters in the Australian Landscape (2003) thematisiert sie bildgewaltig die Gräuel, denen sich die Aborigines-Völker von der Kolonialzeit bis heute ausgesetzt sehen. Wie Rosenbach beschäftigt sich auch Shirin Neshat (*1957 in Qazvin, Iran) mit weiblichen Rollenbildern, bei Neshat ist es die weibliche Existenz in einer muslimisch geprägten Welt. In den großformatigen Aufnahmen der Serie Women of Allah (1995) inszeniert sie im Tschador gekleidete Frauen mit Waffen und streift damit ein bis in die Gegenwart oftmals tabuisiertes Thema. Neshat reizt hier Gegensätze aus: Die Fotografien zeigen Weiblichkeit und Gewalt, die Frauen sind bewaffnet und erscheinen doch wehrlos.

Den Abschluss auf dem zweiten Geschoss bilden Fotografien von Candida Höfer (*1944 in Eberswalde) und Annette Kelm (*1975 in Stuttgart). Ordnungssysteme interessieren Candida Höfer in ihren Architekturfotografien, von denen die Sammlung Klein beispielhaft für ihre neueren Arbeiten zu Bibliotheken das großformatige Werk Real Gabinete Português de Leitura Rio de Janeiro IV (2005) besitzt. Die beiden mehrteiligen Fotoarbeiten von Annette Kelm in der Sammlung Klein – Michaela Coffee Break (2009) und Lucie (2016) – thematisieren das Porträt. In frontaler Aufnahme zeigen sie Posen von Frauen. Vergleicht man die Fotografien miteinander, so entdeckt man in jeder Wiederholung Differenzen.

EBENE 3

Die stilistische Vielfalt der Gattung Malerei erschließt sich auf der dritten Ausstellungsebene des Kubus. Gottfried Helnwein (*1948 in Wien) ist mit seinen fotorealistischen Gemälden von malträtierten Kindern in den 1970er-Jahren bekannt geworden. Leid und Qual, häufig verknüpft mit kindlicher Unschuld, sind bis heute die vorherrschenden Themen des österreichischen Künstlers geblieben, etwa in The Disasters of War 1 (2007), auf dem ein aus dem Dunkel ins Licht tretendes, angsterfülltes Mädchen auf eine blutrot gefärbte Figur, ihr Alter Ego, blickt. Außerdem in der Ausstellung zu sehen, ist das Gemälde Dark Hour (2003), das drei skeptisch, zugleich erwartungsvoll dreinblickende Männer gegenüber einer Donald-Duck-Figur um einen Tisch versammelt. Wie bei Helnwein verwischen auch in den Werken von Karin Kneffel (*1957 in Marl) die Gattungsgrenzen von Malerei und Fotografie. Die Künstlerin spielt in ihren großformatigen Bildern mit perspektivischen Illusionen, die häufig ad absurdum geführt werden. Spiegelungen, Verzerrungen und der Blick durch getrübte Fensterscheiben stellen malerische Effekte dar, um Sehgewohnheiten einer Prüfung zu unterziehen.

Wo es Kneffel um Illusion und tiefenräumliche Bilderzählungen geht, stellt Franziska Holstein (*1978 in Leipzig) die Malerei selbst infrage. Sie bricht die Maloberfläche auf und heraus. In dem fast vier Meter breiten Gemälde Ohne Titel (Fernseher, Pflanze) (2008), das sich mit dem Leben in der ehemaligen DDR beschäftigt, werden die Gegenstände und Motive durch opake Farbschichten zurückgedrängt – diese weisen den Betrachter immer wieder darauf hin, dass er ein Gemälde vor sich hat. Markus Oehlen (*1956 in Krefeld) verhilft der Malerei zu neuen Ausdrucksformen, indem er ihr mit dem Mittel der Linie begegnet. Bereits vor dreißig Jahren spielte er mit wellenförmigen Strukturen und Bildschichten wie in seiner in der Ausstellung vertretenen Arbeit Ohne Titel (1986). Diese Gestaltungsmittel werden in jüngeren Arbeiten wie Poor Boy (2012) durch computerbasierte Verfahren und reproduktive Techniken aktualisiert und verfeinert.

In seinem großformatigen Panorama o. T. (2012) nutzt Michael Wutz (*1979 in Ichenhausen) die Möglichkeiten von Aquarell und Tusche, um Sediment- und Eruptivgesteine in ihren vielfältigen Ablagerungen darzustellen und detailreich eine apokalyptische Landschaft einzufügen, auf der Gebeine und Totenschädel verstreut liegen. Die fiktive Landschaft erinnert entfernt an die Kraterlandschaften des Nördlinger Rieses, wo der Künstler aufgewachsen ist. Die Malerei von David Schnell (*1971 in Bergisch Gladbach) enthält sowohl figurative als auch abstrakte Elemente. Die sich im Hintergrund von Pista dʼOro (2013) abzeichnenden Landschaften mit dem architektonischen Versatzstück einer leerstehenden Villa aus der Mussolini-Zeit werden überlagert von einer farbgewaltigen Ebene abstrakter Linien und Flächen. Auch Corinne Wasmuht (*1964 in Dortmund) bedient sich einer Maltechnik, bei der verschiedene Farbschichten auf Holz aufgetragen werden. Durch die Überlagerung von Strukturen und Perspektiven, bei der Bilddetails immer sichtbar bleiben, bringt Wasmuht die Simultaneität verschiedener Zeit- und Raumebenen in ihrer Malerei zur Deckung.