#23 Header Neu
#23 Header5 Tp
#23 Header2 Tp
#23 Header4 Tp
#23 Header Damisch
previous arrow
next arrow

#RUNDGANG

Ebene 1 | NINA RÖDER

Michelin Kober

1968 geboren in Herrenberg, lebt in Stuttgart

Linie für Linie zieht Michelin Kober schmale Tuschebahnen, freihändig, und doch nicht mit freier Hand, denn die spontane Geste bleibt ihr fremd. Langsam legt sich von links nach rechts oder von oben nach unten eine gerade Spur verdünnter Tusche auf das Blatt. Die nächste folgt ihr, verbindet sich mit ihr, indem sie – nass in nass, über einen nur zarten Trockenrand hinweg – die feinen Partikel des Pigments in sich aufnimmt.  Im kontemplativen Ritual des wiederholten Tuns verdichten sich die Linien nach und nach sowie Schicht für Schicht zu einer malerischen Fläche. Farbverläufe reichen von hellen, luziden Tönen bis zu einem gesättigten Schwarz von unfassbarer Tiefe. Dazwischen bleibt ein schmaler Streifen des unbehandelten Papiergrunds stehen, der im Bildraum aus sich selbst heraus leuchtet. So scheint es, als wollten die Linien all die Ruhe und Konzentration, all die Energie und die Zeit, die in ihnen liegt, hineingeben in das geheimnisvolle Strahlen eines Lichts inmitten von ihnen.

Michelin Kober, HORIZON - green middle, 2018, Tusche auf Büttenpapier, ca. 120 x 144 cm, gerahmt, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Michelin Kober, horizon (quer I), 2013, Tusche auf Papier, 31,5 x 41,5 cm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Michelin Kober, horizon (crossing 2), 2014, Tusche auf Papier, 31,5 x 41,5 cm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Thomas Müller

1959 geboren in Frankfurt a.M., lebt in Stuttgart

Welche der Linien war die erste auf dem Blatt? Man weiß es nicht. Man geht, irgendwo beginnend, mit dem Blick dem Verlauf einer Linie nach, erkennt in ihrem Schwingen eine gewisse Melodie, sieht wann und wie stark sie die Richtung verändert. Man beobachtet, wie eine Linie auf die andere zuläuft, deutlich Abstand hält oder sich ihnen mal in stumpfen oder spitzen Winkeln annähert. Mitunter überschneiden sie sich dann oder begleiten einander auch für eine Weile, wenn sie nebeneinander und doch nicht parallel ihre Spuren ziehen. Einige treten unter korrigierendem Weiß zurück. Bei anderen dringt das Öl der Farbe ins Papier ein. Nach und nach verändert sich der Blick, der sich – angereichert vom Erkunden einer bildnerischen Sprache – auf das Ganze richtet und es als komplexes Gefüge aufeinander reagierender Setzungen erkennt. Und man weiß, dass man sich auch neu darauf einlassen muss, wenn man der nächsten Zeichnung von Thomas Müller begegnet.

Thomas Müller, Ohne Titel, 2019, Bleistift, Ölfarbe, Tusche auf Fabriano Bütten, 196 x 140 cm, ©Thomas Müller
Thomas Müller, Ohne Titel, 2018, Bleistift, Ölfarbe, Tusche auf Fabriano Bütten, 196 x 140 cm, ©Thomas Müller

Michelangelo Pistoletto

1933 geboren in Biella, lebt in Turin

Drei Bildtafeln des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto, einem der Hauptvertreter der Arte Povera: Sie bestehen aus schwarzem Siebdruck auf Spiegel, auf den äußeren Tafeln die Profilaufnahmen seiner Zwillingstöchter, einander zugekehrt, dazwischen, auf Augenhöhe in der sonst leeren Fläche, ein kleiner Punkt. Offen bleibt, ob sich die beiden Konterfeis der Frauen gegenseitig anschauen, oder ob sich ihre Blicke auf die fokussierte Mitte konzentrieren. Sobald man ans Werk herantritt, erscheint das eigene Spiegelbild. Man sieht sich beim Betrachten selbst und reflektiert damit das Betrachten als solches. Zugleich ergänzt, vervollständigt man das Werk im Sinne Pistolettos, indem man es mit dem eigenen (Lebens-)Raum und seiner Wirklichkeit verknüpft.

Michelangelo Pistoletto, Gemelle (Spiegel-Triptychon), 1998, Acrylspiegel, Siebdruck, je 50 x 40 cm, ©Michelangelo Pistoletto

Arnulf Rainer

1929 geboren in Baden bei Wien, lebt in Enzenkirchen (Oberösterreich) und auf Teneriffa

Zwei Kaltnadelradierungen von Arnulf Rainer aus dem Jahr 1978: Im Untergrund abgebildet sind Fotografien des Künstlers in Posen, die nicht eindeutig sind oder unverständlich erscheinen. Darüber liegen zahlreiche Striche, mit der Radiernadel kraftvoll und in schnellen Zügen in die Platte eingegraben. Im einen Blatt folgen sie der Körperhaltung, im andern bilden sie einen dichten Strahlenkranz um den Kopf. Daneben ist ein Gemälde des Künstlers aus dem Jahr 1999 zu sehen mit einem flüchtig skizzierten Gesicht in der Mitte, umgeben von farbigen Schleiern. Wie könnte sich besser zeigen als in diesem Nebeneinander, dass Arnulf Rainers Geste der Übermalung grundsätzlich nicht nur ein Verbergen und Löschen ist, sondern auch ein Akt der des Hervorholens und der Auseinandersetzung.

Ausstellungsansicht Arnulf Rainer

Andy Denzler

1965 geboren in Zürich, lebt in Zürich

Bei den Arbeiten von Andy Denzler handelt es sich um Porträts oder Darstellungen von Menschen in einer unbestimmten Umgebung oder von Landschaft umfangen. Man sieht sie in ihrem Tun, in ihren Bewegungen verharren, festgehalten in Momentaufnahmen. In seiner malerischen Umsetzung der Motive folgt Andy Denzler zunächst einer realistisch geprägten Konzeption, vollzieht aber dann in der obersten Malschicht den für seine Arbeiten charakteristischen und entscheidenden Schritt horizontale Bahnen in die noch feuchte Ölfarbe zu ziehen. So, als wische er damit alles Zufällige des Momentanen aus, erhebt sich das Dargestellte auf eine andere, abstrakte Ebene von Zeit und Wirklichkeit.

Andy Denzler, East London #3, 2008, Öl auf Leinwand, 180 x 150 cm, ©Andy Denzler
Andy Denzler, Land in Sicht, 2010, Öl auf Leinwand, 140 x 120 cm, ©Andy Denzler
Ausstellungsansicht Andy Denzler und Stefan Mauck

Erdmut Bramke

1940 geboren in Kiel, 2002 verstorben in Stuttgart

Der Strich verrät die Bewegung der Hand beim Auftrag der Farbe auf die Leinwand: ein kurzes Streichen mit dem breiten Pinsel, keine Hiebe. Die Farbe verdünnt, unabhängig vom dunklen oder hellen Kolorit, immer zart. Ein vielfach wiederholtes Ansetzen, das Strich für Strich, Schicht für Schicht die eigene bildnerische Setzung in dialogische Verhältnisse bringt, sich in der Bildmitte verdichtet oder einer (dunklen) Lichtung im Innern Raum gibt. Die Arbeiten von Erdmut Bramke, die Mitte der 1980er Jahre entstanden sind, unterscheiden sich von ihren früheren Werken, die vom Duktus eines linearen Fortschreibens geprägt sind – damals oft in der Leserichtung von links oben nach rechts unten – und an ihren viel zitierten Satz denken lassen: sie schreibe ihre Bilder. Das geknüpfte Gefüge löst sich jetzt auf in ein bildfüllendes Flimmern, das einer Idee Raum gibt, einer Idee vom Sommer oder vom Wald bei Fontainebleau.

Erdmut Bramke, Wald bei Fontainebleau, 1986, Acryl auf Leinwand, 220 x 180 cm / Sommerbild 16, 1986, Acryl auf Leinwand, 180 x 220 cm / beide Abbildungen ©Nachlass Erdmut Bramke, Freunde der Staatsgalerie Stuttgart – Stuttgarter Galerieverein e. V., VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Spandita Malik

1995 geboren in Indien, lebt in New York

Die Frauen dürfen das Haus nicht verlassen. Sie bleiben von ihren Männern oder Vätern in der Wohnung eingesperrt. Oder die Angst zwingt sie zum isolierten Leben in ihren Zimmern; die Angst vor gewalttätigen Übergriffen draußen, eben weil sie Frauen sind in Indien. Ein geringes Einkommen verdienen sie sich mit traditionellen Stickereien, für die ihre Dörfer in Uttar Pradesh, Rajasthan und Punjab bekannt sind.
Die aus Indien stammende, in New York lebende Künstlerin Spandita Malik hat die Frauen besucht. Aus dem Vorhaben, eine dokumentarische Fotoserie zu erstellen, entwickelte sich ein Kooperationsprojekt. Spandita Malik ließ die aufgenommenen Porträts auf einen für die Region charakteristischen Stoff drucken und gab sie den Frauen zurück mit der Bitte, sie nach eigenen Vorstellungen zu besticken. Die Werkserie trägt den Titel Nā́rī, was in Sanskrit „Frau“ bedeutet, ebenso ein weibliches Objekt bezeichnet oder auch „Opfer“ heißt.

Spandita Malik, Nuzrat Praween, 2019, Thermotransferdruck auf Schleier-Stoff, Weißstickerei, 92 x 109 cm, ©Spandita Malik
Spandita Malik, Kosar, 2019, Thermotransferdruck auf Khadi-Stoff, Gota Patti-Applikationen und Goldstickerei, 66 x 89 cm, ©Spandita Malik
David Schnell, Pista d‘oro, 2013, Öl auf Leinwand, 150 x 250 cm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021

David Schnell

1971 geboren in Bergisch Gladbach, lebt in Leipzig

Die Landschaft scheint von der Erdenschwere der realen Welt befreit zu sein. Ihr Licht überwältigt hier mit strahlendem Gelb und Azurblau, ist milde dort in sanften Pastelltönen. Der in Leipzig lebende Künstler David Schnell löst alles Festgefügte eines landschaftlich Gegebenen auf. Architektonische und pflanzliche Fragmente, geometrische Flächen und abstrakte Strukturen erzeugen in seiner Malerei – getragen von einem perspektivischen Gerüst – äußerst dynamische bildnerische Kräfte.

David Schnell Flur, 2014, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Günther Uecker

1930 geboren in Wendorf, lebt in Düsseldorf und St. Gallen

Ist es ein Auswärts- oder Einwärts-Drehen, an das man bei der „Spirale“ von Günther Uecker denkt? Komprimiert sich die Kraft der imaginären Bewegung in der Mitte oder erhält sie gerade an dieser Stelle ihren anfänglichen Impuls, um sich ins Periphere auszubreiten? Bereits in der hellen Grundierung des Nagelreliefs ist die Form der Spirale zu erkennen. Mit den Zimmermannsnägeln, die der Künstler in die Platte einschlägt, gewinnt das Wirbeln eine physisch spürbare Präsenz. Die Köpfe der Nägel über den metallenen Schäften sind weiß gefasst, so dass sich das dynamische Geschehen zugleich beruhigt. Die ambivalente Lesart der bildnerischen Struktur findet einen Widerhall im Zusammenklingen von Ruhe und Bewegung.

Günther Uecker, Spirale, 2005, Nägel und Farbe auf Leinwand, Holz, 90 x 90 x 12 cm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Anna Krammig

1981 geboren in Heidelberg, lebt in Zürich

Dem Wesen nach flüchtig und körperlos sind die Schatten, die sich auf den Hauswänden abzeichnen. Vergänglich sind die Spuren des Gegenständlichen auf der hellen Fläche. Denn ihr Abbild wird sich verändern, gleich, wenn die Sonne weiter wandert. Mit dem ephemeren Spiel von Licht und Schatten hält die Künstlerin Anna Krammig in ihren Gemälden das Besondere von an sich unspektakulären Momenten und Orten fest. Zugleich verleiht ihre feine, in Lasuren aufgetragene Malerei dem Dargestellten ein Schimmern, welches die Gedanken beim Betrachten entführt und mit zeitlosen inneren Bildern verknüpft.

Ausstellungsansicht Anna Krammig, u.a. Gemälde aus der Serie „Palme“, 2015, Öl auf Leinwand, ©Anna Krammig

Gunter Damisch

1958 geboren in Steyr, 2016 verstorben in Wien

Alles scheint in den farbintensiven Gemälden von Gunter Damisch zu schweben. Nichts ist festgehalten im Faktischen. Die Dimensionen physikalischer Größen verschieben sich vom Kleinen ins Große und umgekehrt. Kleinste mikrobiologische Formen sehen aus wie große Himmelskörper, dazwischen zeichenhafte Elemente, die Räume überspannen, sich ausdehnen, und die der Künstler selbst „Felder“, „Wege“, „Netze“ oder „Flimmern“ nannte. Jedes Bild wirkt wie ein Ausschnitt aus einer weiten kosmischen Welt, in der wohl vor allem eins von Bedeutung ist: dass dem Wachsen der Dinge und der Gedanken ein offener Raum gegeben werde.

Gunter Damisch, Rotfeldwelten untenoben, 1998, Öl auf Leinwand, 110 x 110 cm, ©Gunter Damisch
Gunter Damisch, Untenflimmern, 1998, Öl auf Leinwand, 110 x 110 cm, ©Gunter Damisch
Gunter Damisch, Gelbflämmlerwege, 1998, Öl auf Leinwand, 110 x 110 cm, ©Gunter Damisch