Rund 100 Jahre liegen zwischen den beiden künstlerischen Positionen von Edward S. Curtis und Will Wilson, die in der Ausstellung … als würden allein diese Bilder bleiben unterschiedliche Perspektiven auf die Darstellung und Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas widerspiegeln. Ihre Werke setzen sich in Bezug zu populären Vorstellungen von „den Indianern“, die meist von den Erzählungen Karl Mays und deren Verfilmungen geprägt sind.
#26
Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir einerseits von „ den Indianern“, andererseits von „Native Americans“ hören? Schon die unterschiedlichen Bezeichnungen der Ersten Amerikaner rufen verschiedene gedankliche Szenerien hervor. Wahrscheinlich kommen zunächst Spiele der Kindheit in Erinnerung, Bücher, Filme, in denen Winnetou und Old Shatterhand die Helden waren oder – wie bei Kindern heute – Geschichten von Yakari, die sie aus Comicverfilmungen kennen. Der zweite Begriff beinhaltet eine andere, zeitgenössische Perspektive, die jedoch weit weniger von Bildern besetzt ist als der erstere.
Woher kommen die über lange Zeit geprägten Vorstellungen von „den Indianern“? Wie stellen sie sich in der Sicht einer heutigen, indigenen Position dar? Das KUNSTWERK lässt dazu in der Ausstellung … als würden allein diese Bilder bleiben historische und zeitgenössische Fotografien sprechen. Sie bringt Fotogravuren, Fotoabzüge und Goldtone-Prints von Edward S. Curtis (1868-1952) in einen Dialog mit den – erstmals in Westeuropa präsentierten – Arbeiten des in Santa Fe lebenden Multimedia-Künstlers Will Wilson (*1969), der selbst Angehöriger der Navajo/Diné-Nation ist.
#RUNDGANG
Ebe
Ebene 1
ne 1 | NINA RÖDER

Wer in die Ausstellung im KUNSTWERK kommt, bringt gewissermaßen eigene, „innere Bilder“ mit. Die Vorstellung von „den Indianern“ ist in unserer Gesellschaft meist durch die Erzählungen von Karl May und deren Verfilmungen in den 1960-er und -70er Jahren geprägt. Auch wenn man weiß, dass sie auf einer literarischen Fiktion beruhen und in hohem Maße Klischees bedienen, bleiben sie dennoch Bestandteil der eigenen Identität.
Die Präsentation auf Ebene 1 spiegelt Gespräche mit Gästen im KUNSTWERK während der Vorbereitung der Ausstellung wider. Einige der Besucherinnen und Besucher stellten Exponate bereit, die ihre spontan geäußerten Assoziationen repräsentieren. Sie zeigen in durchaus zufälliger, exemplarischer Weise Bekanntes auf, führen aber auch zu manch neuen Entdeckungen.

Ebe
Ebene 2: EDWARD S. CURTIS
ne 1 | NINA RÖDER

Mit seiner zwischen 1907 und 1930 erschienenen, 20-bändigen Enzyklopädie The North American Indian schuf Edward Sheriff Curtis ein unvergleichliches Lebenswerk, mit dem er sich in die Geschichte der Fotografie und in die der amerikanischen Nation eingeschrieben hat.
Der 1868 in Wisconsin geborene Fotograf, der im Alter von 23 Jahren nach Seattle zog und dort ein Studio für Porträt- und Landschaftsfotografie betrieb, widmete seine Arbeit seit Ende des 19. Jahrhunderts den indianischen Kulturen Nordamerikas. Er besuchte mehr als 80 Stämme in den Reservationen des amerikanischen Westens und nahm mehr als 40.000 Fotografien auf. Gemeinsam mit Assistenten und Dolmetschern stellte er tausende Seiten mit Informationen über das Leben der indianischen Gemeinschaften zusammen, über die sozialen Strukturen, Sitten und Bräuche, ihre Glaubensvorstellungen und (kunst-)handwerklichen Arbeiten. Auf Wachswalzen zeichnete er Lieder und die verschiedenen Sprachen auf, die er in Notenschrift und Lautschriftzeichen übertrug.


Seine Feldforschungen fasste Curtis in hochwertigen Text-Bild-Bänden zusammen, die mit der finanziellen Unterstützung des Eisenbahn- und Bankmagnaten J.P. Morgan und dessen Sohn veröffentlicht werden konnten. Sie sind teils einzelnen, zumeist aber mehreren indigenen Gruppen gewidmet und enthalten jeweils 75 Abbildungen. Zu den einzelnen Bänden gab Curtis jeweils Portfolio-Mappen heraus mit 35 ausgewählten Aufnahmen im Format 40 x 30 cm. Wie die Abbildungen in den Büchern wurden sie in der Tiefdrucktechnik der Fotogravur hergestellt.
Die meisten Exponate der Ausstellung im KUNSTWERK stammen aus 12 der insgesamt 20 Portfolio-Mappen. Aufnahmen kleineren Formats sind aufgelösten Text-Bild-Bänden entnommen.

Die schriftlichen Aufzeichnungen von Edward S. Curtis zu den indigenen Gemeinschaften Nordamerikas werden in der weiteren Wahrnehmung seines Werks von der eindrucksvollen Wirkung seiner Fotografien überstrahlt. Es sind zunächst malerische, stimmungsvolle Aufnahmen, die von einer damals nicht selbstverständlichen Sympathie und Wertschätzung gegenüber der indianischen Bevölkerung und deren Kultur zeugen. Die Wirklichkeit in den Reservationen, die zunehmende Assimilation und den Einfluss des modernen Lebens vor Augen, ging Curtis gerade als Fotograf über das rein Dokumentarische hinaus, indem er in der Tradition des fotografisch-künstlerischen Piktorialismus atmosphärische und sorgsam komponierte Bilder schuf, die im Grunde die Verhältnisse vor der kulturellen Veränderung durch europäisch-amerikanische Einflüsse heraufbeschwören.




Seltene Goldtone-Prints setzen einen Akzent in der Präsentation der Werke von Edward S. Curtis auf Ebene 2. Die auf Glasplatten reproduzierten Aufnahmen werden von einer goldfarben schimmernden Lackschicht hinterfangen, was der zweidimensionalen Fotografie eine besondere Tiefe und Transparenz verleiht. Hervorzuheben ist dabei das Bild mit dem Titel The Vanishing Race. Curtis selbst stellte das um 1904 aufgenommene Motiv als erste Abbildung seiner ersten Portfolio-Mappe voran. Es unterstreicht damit in programmatischer Weise, dass er – durchaus mit vielen Zeitgenossen übereinstimmend – die indianischen Kulturen im Verschwinden begriffen sah. Er wollte gewissermaßen festhalten, was es noch festzuhalten gab, ließ sich allerdings durchaus von seiner eigenen Vorstellung dessen, was „typisch indianisch“ sei, leiten.
Ebe
Ebene 3: Will Wilson
ne 1 | NINA RÖDER
Der 1969 geborene, in Santa Fe lebende Multimedia-Künstler Will Wilson – selbst Angehöriger der Navajo/Diné-Nation – antwortet mit seinen Projekten auf das bildnerische Erbe von Edward S. Curtis. Er stellt dessen Werken ein zeitgenössisches Narrativ gegenüber, das nicht nur vom Fortbestehen der indianischen Tradition und der darauf beruhenden, selbstbestimmten Identität der Native Americans zeugt, sondern auch den Blick über das Heute hinaus in die Zukunft richtet.
Wilson greift bewusst überkommene Bildmuster und historische Verfahren der Fotografie auf, gibt ihnen jedoch eine zeitgenössische Inhaltlichkeit. Gerade indem er eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt, ist es ihm möglich, eine künstlerische Position zu beziehen, welche die Bedeutung der indigenen Überlieferung in ein neues Licht rückt.
2012 startet Will Wilson sein Projekt Critical Indigenous Photographic Exchange (CiPX). In Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften und verschiedenen Museen lädt er Nachfahren der von Edward S. Curtis Porträtierten dazu ein, von sich und ihrer Sicht auf die nach wie vor lebendige Tradition der indianischen Kultur zu erzählen. Für die Fotografien, die er dabei aufnimmt, nutzt er die historische Technik des Kollodium-Nassplatten-Verfahrens, das – vergleichbar mit dem späteren Polaroid – direkt auf der beschichteten Metallplatte entsteht. Wesentlich ist dabei ein neues Verständnis seiner Rolle als Autor. Über die bildnerische Repräsentation entscheidet jetzt nicht mehr – wie einst Curtis – der Fotograf. Alle Beteiligten bestimmen selbst, in welcher Kleidung, mit welchen Attributen ihr Bild aufgenommen wird und welche Geschichten sie erzählen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sie gleich vor Ort die originale Ferrotypie ausgehändigt bekommen. Im Gegenzug erhält Will Wilson das Recht, die gescannten Bilder für seine künstlerische Arbeit zu nutzen.
Die Talking Tintypes in der Ausstellung unterstreichen nochmals Will Wilsons Position als Künstler des 21. Jahrhunderts sowie das dialogische Prinzip des CIPX-Projektes. Mit einer App, die auch anhand des hier dargestellten QR-Code heruntergeladen werden kann, sind mit dem Smartphone Videosequenzen abrufbar, sobald man die Kamera des Smartphones auf eine der Aufnahmen richtet. Die Talking Tinypes von Will Wilson vermitteln persönlich erlebte Begegnungen mit den dargestellten Akteurinnen und Akteuren, indem sie deren Stimmen und Aktionen mit der jeweils gegenwärtigen Lebenswelt der Betrachter*innen verknüpfen.
Erste Aufmerksamkeit in den USA erhält Will Wilson mit den Arbeiten seiner Serie Auto Immune Response (AIR), die 2004 einsetzt. Großformatige Bildpanoramen und Videoarbeiten zeigen einen männlichen Protagonisten in Landschaften, in denen jegliches Leben ausgelöscht ist. Wilson reflektiert darin zunächst die Folgen des umfangreichen Uranabbaus in der Navajo Nation Reservation von 1942 bis in die 1980-er Jahre hinein, verweist aber auch auf die aktuelle Veränderung der Umwelt im Zeichen des Klimawandels. Die Bildkonzeptionen der weiten Landschaften spiegeln ebenso wie die mit zeitgenössischem Equipment ausgestatteten Innenaufnahmen eines hogáns – der traditionellen Behausung der Diné – eine gegenwärtige, indigene Perspektive wider, die sich mit ererbtem Wissen und neuester Technologie auf Fragestellungen von globaler Dimension ausrichtet.